„Ich verstehe einfach nicht, warum man sich nicht schützt!“

Donnerstag 7. 10. 7. Okt 2021

Sehr geehrter Dr. Marx, Wie hat sich in den vergangenen Wochen die Lage auf der Intensivstation des Klinikums Freising entwickelt?
Marx: Wir hatten im September sieben schwererkrankte CoVID-19-Patienten auf der Intensivstation, von denen vier zeitgleich versorgt werden mussten. Alle Patienten wurden beatmet mit Maske im Wechsel mit einer Hochdosis-Sauerstofftherapie. Da es sich um jüngere, kräftigere Patienten handelte, konnten wir auf ein Intubieren verzichten. Ohne Maschinen kam aber keiner aus.

Lassen sich die CoVID-Patienten auf der Intensivstation näher charakterisieren?
Marx: Die allermeisten, der im Herbst wegen Corona eingewiesenen Patienten hatten keine wesentlichen Begleiterkrankungen.

Wie waren die Verläufe?
Marx: Alle CoVID-19-Patienten auf der Intensivstation im September waren ungeimpft und zeigten deutliche Organfunktionsstörungen. Die genannten jungen Patienten beispielsweise hatten eine hochgradige Einschränkung ihrer Lungenfunktion und wären ohne Beatmung gestorben. Es dauert lange (8 bis 12 Tage im Durchschnitt), bis man solche Patienten von der Intensivstation auf die Normalstation verlegen kann, wo sie aber weiterhin Sauerstoff benötigen. Keiner wird nach drei Wochen einfach nach Hause gehen können. Vielmehr wird sich bei vielen ein Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung anschließen.

Wie sieht die Behandlung von CoVID-Patienten aus? Gibt es Fortschritte oder neue Erkenntnisse aus den vorhergehenden Infektionswellen?
Wir haben mittlerweile eine gewisse Routine bei der Behandlung, aber es bleibt eine furchtbare Erfahrung, wenn beispielsweise ein junger, kräftiger Patient nicht mal einen Schluck Wasser trinken kann, ohne dass sofort die Sauerstoffsättigung sinkt. Ein gut wirksames Therapeutikum gegen Corona gibt es bisher nicht. Wir setzen bei der Behandlung der Symptome entsprechend der Empfehlungen in den Leitlinien auf Cortison, weil es nach Studienlage bislang das einzige Medikament ist, das einen CoVID-19-Verlauf tatsächlich abmildern kann und einen Überlebensvorteil bietet. Das in den vorherigen Wellen beworbene „Remdesivir" wird hingegen auf Intensivstationen immer zurückhaltender gegeben. Das Medikament soll die Virenreplikation verringern helfen, was aber bei Intensivpatienten zu spät kommt, weil der Schaden schon eingetreten ist. Weitere Bestandteile unserer CoVid-19-Behandlung sind eine erweiterte Thromboseprophylaxe, weil im Rahmen von Viruspneumonien ein erhöhtes Risiko für Thromboembolien besteht, sowie eine restriktive Flüssigkeitstherapie, wenn die Lunge schwer betroffen ist. Ferner betten wir Patienten in Bauchlage bzw. jüngere und kräftigere Patienten legen sich nachts selber auf den Bauch („self proning"). Das hilft ihnen sehr.

Derzeit liest man in der Zeitung und in sozialen Netzwerken, dass Mitarbeitende der Pflege und Ärzteschaft auf Intensivstationen "empört" seien über ungeimpfte COVID-Patienten? Wie empfinden Sie und Ihre Kollegen die Situation?
Marx: Wir empfinden keinen Groll auf ungeimpfte CoVID-19-Patienten. Das entspricht nicht unserem ärztlichen Ethos! Aber ich verstehe einfach nicht, warum man sich nicht schützt!? Als die Pandemie ausbrach, hatten viele Menschen Angst und hofften auf die medizinische Forschung. Und tatsächlich gelang es, binnen zehn Monaten mehrere hochgradig wirksame Impfstoffe zu entwickeln! Heute können wir uns vor Corona schützen. Anders als in vielen Länder auf der Welt stehen Impfstoffe im Überfluss bereit. So viele Menschen wurden bereits geimpft, sodass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass die Impfstoffe sicher sind! Das Risiko von Nebenwirkungen einer Impfung ist verschwindend gering gegenüber der Lebensgefahr und den monatelangen Spätfolgen, die eine Infektion mit sich bringt. Die notwendige Cortison-Behandlung etwa ist mit starken Nebenwirkungen auf den Zuckerstoffwechsel verbunden. Sie kann zum Beispiel zu einer diabetischen Stoffwechsellage mit ungünstigen Folgen führen. Und es gibt noch viele weitere Folgeerkrankungen und Einschränkungen.

Welche Entwicklung erwarten Sie für die nächsten Wochen?
Wir werden auf lange Zeit CoVID-19-Patienten in den Krankenhäusern sehen. Die Regeln werden jetzt immer weiter gelockert, der Herbst naht, und die Menschen halten sich mehr in geschlossenen Räumen auf. Welche Folgen das für die Intensivstationen haben wird, ist schwer einzuschätzen. Klar ist aber, dass wir nicht noch einmal den Krankenhausbetrieb aufgrund von CoVID-19 komplett zurückfahren können, wie es in den ersten Wellen geschah. Wir haben einen Rückstau bei den Patienten und müssen auch andere Schwerkranke gleichermaßen versorgen.